Frau am Handy vor Laptop und Papieren

Digitalisierung der Justiz: Klagen zukünftig so einfach wie Online-Shopping?


Am 11.06.2024 hat das Bundesministerium der Justiz (BMJ) den Referentenentwurf für das „Gesetz zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit“ veröffentlicht. Ziel ist es, den Zugang zu Gerichten zu erleichtern und die Effizienz der Justiz zu steigern.

Zum Hintergrund

Häufig schrecken Anspruchsinhaber selbst bei vermeintlich eindeutiger Rechtslage davor zurück, kleinere Forderungen vor Gericht zu erstreiten. Denn die gerichtliche Beitreibung ist bisweilen mit vergleichsweise hohen Kosten sowie einem erheblichen administrativen Aufwand verbunden. In Summe führt dies seit Jahren deutlich erkennbar zu rückläufigen Eingangszahlen bei geringwertigen Zivilstreitigkeiten (vgl. Abschlussbericht zur „Erforschung der Ursachen des Rückgangs der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten“). Andererseits droht die Justiz bei immer knapperen Ressourcen und stark zunehmender Zahl sog. Masseklageverfahren überlastet zu werden (vgl. Forderung des Deutschen Richterbundes zur Gesetzesänderung für Massenverfahren). Beide Trends stellen langfristig die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaates infrage. Die Ampel-Koalition hat sich daher im Koalitionsvertrag das Ziel gesetzt, die Justiz zum einen an die digitalisierte Lebenswirklichkeit anzupassen und zum anderen die Hürden zur Beitreibung auch kleinerer Forderungen drastisch herabzusetzen.

Lösungsansatz

Zukünftig soll ein Online-Portal der Justiz es Rechtssuchenden auf einfachste Weise durch gezielte formularmäßige Abfragen ermöglichen, ohne tiefere rechtliche Vorkenntnisse geringwertige Klagen auf der Grundlage individueller Sachverhalte einzureichen. Zudem sollen durch das Online-Portal alternative Wege zur Forderungsdurchsetzung und Streitbeilegung aufgezeigt werden.

Von der Erprobung erfasst sind zunächst Verfahren vor den Amtsgerichten mit einem Streitwert bis 5.000 Euro. Es ist zu erwarten, dass diese Grenze in Zukunft auf 8.000 Euro angehoben wird (Lesen Sie gerne zur geplanten Streitwerterhöhung unseren Beitrag aus der April-Ausgabe).

Was heißt das nun in der Praxis? Dazu ein Beispiel: Ein Kleinunternehmer hat eine offene Forderung von 4.500 Euro gegenüber einem säumigen Kunden. Anstatt Zeit und Geld für einen herkömmlichen Gerichtsprozess zu investieren und einen Rechtsanwalt beauftragen zu müssen, soll der Unternehmer künftig das Online-Portal der Justiz nutzen können, um ohne großen Aufwand selbst eine Klage einzureichen. Das System prüft anhand formularmäßiger Abfragen sowohl die Zulässigkeit als auch die Schlüssigkeit des Anspruchs. Die weitere Kommunikation mit dem Gericht erfolgt über ein digitales Postfach, das den gefahrlosen Austausch auch sensibler Dokumente ermöglicht. Die Anwaltschaft kann im Bedarfsfall von den Parteien über eine Schnittstelle zum elektronischen Anwaltspostfach in den digitalen Prozess zugeschaltet werden. Die Möglichkeit von Videoverhandlungen und die Nutzung technischer Mittel zur Beweisaufnahme sollen zudem aufwendige Anreisen der Parteien, die in keinem Verhältnis zum Streitwert stehen, überflüssig machen.

Besondere Maßnahmen für Massenklagen

Bei Massenklagen sieht der Referentenentwurf besonders interessante Veränderungen vor. Diese Verfahren waren bis dato geprägt von einer Aktenüberflutung der Gerichte. Rechtssuchende mussten oft mehrere Jahre auf die Urteile und ihre Entschädigungen warten. Mehrfach wurde in der Vergangenheit versucht, die Stellung insbesondere der Verbraucher bei Massenklagen zu stärken (Lesen Sie hierzu gerne auch unsere Beiträge aus den Ausgaben Dezember 2023 zur Beschleunigung von Masseklageverfahren und November 2023 zur Kollektivierung des Rechtsschutzes für Verbraucher). Das BMJ möchte nun dieser zunehmenden Überforderung entgegenwirken, indem es für derartige Verfahren die Geltendmachung von Forderungen über das digitale Eingabesystem verpflichtend macht. Damit sollen Sachverhalte, die eine Vielzahl gleich gelagerter Fälle betreffen, von Beginn an systematisiert und so die Bearbeitungseffizienz gesteigert werden. Das Erprobungsgesetz enthält insoweit bereits eine namentliche Verpflichtung für Geldforderungen, die sich aus der Geltendmachung von Fluggastrechten ergeben. Reisende, deren Flüge ausfallen oder große Verspätung haben, können ihre Entschädigungen also zukünftig über das digitale Justizportal einklagen. Dadurch könnte die Zurückhaltung potenziell Betroffener aus Angst vor langwierigen Gerichtsverfahren überwunden werden. Gleichzeitig wird das Geschäftsmodell sog. Klägerkanzleien mittelfristig infrage gestellt, wenn auch Kleinstbeträge schnell und effizient ohne anwaltliche Unterstützung geltend gemacht werden können.

Ausblick

Der Referentenentwurf enthält sinnvolle Erprobungsansätze, die der Justiz eine schrittweise Anpassung an die digitalisierte Welt ermöglichen könnten. Ab 2025 soll das digitale Verfahren für zehn Jahre an einigen (ausgewählten) Gerichten erprobt werden, um Nachfrage und Wirksamkeit zu überprüfen. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen laut Bundesjustizminister Marco Buschmann sodann als Grundlage für eine langfristige Standardisierung des Zivilverfahrens dienen. Wir bei EY Law begrüßen den Vorstoß des BMJ zur bürgernahen Zugangserleichterung zum Zivilprozess. In einem Rechtsstaat darf die Durchsetzung von Geldforderungen nicht an staatlich produzierten Verwaltungshürden scheitern. An diesem Punkt enthält das Vorhaben gelungene Ansätze, die Aufwand minimieren, Kommunikationswege verkürzen und entbürokratisieren. Allerdings ist fraglich, wie effektiv diese Maßnahmen sind, um dem Masseklagephänomen zu begegnen. Letztlich könnte die Herabsetzung der Hürden für die Rechtsdurchsetzung genau das bewirken, was prinzipiell gewünscht ist: den Anstieg von Fallzahlen bei Kleinstforderungen. Hier wird sich noch zeigen müssen, ob diese Fälle am Ende auch wirklich schneller und effizienter entschieden werden können. Überdies muss sich auch erst noch zeigen, ob bei aller Effizienz die Digitalisierung am Ende auch zu mehr Einzelfallgerechtigkeit führt.

Kontaktpersonen: Alexander Schmiegel, LL.M., Erik Zempel