Massenklageverfahren umfassen Einzel- oder Sammelklagen, in denen eine Vielzahl ähnlicher (Verbraucher-)Ansprüche vor Gericht geltend gemacht wird. Ein prominentes Beispiel hierfür ist der Dieselabgasskandal in der Automobilbranche. Weitere Klagewellen, etwa im Zusammenhang mit Datenschutzverstößen, dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) und dem Digital Service Act (DSA), zeichnen sich ab. Das Leitentscheidungsverfahren zielt darauf ab, durch schnellere und effizientere „Leitentscheidungen“ die Justiz von der Last der Massenklagen zu befreien und divergierende Urteile in gleich gelagerten Fällen zu verhindern, um so mehr Rechtssicherheit zu gewährleisten. Ob dies auch zu mehr Einzelfallgerechtigkeit führt, ist allerdings fraglich.
Der gesetzliche Mechanismus
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass der BGH gemäß § 552b ZPO-E aus anhängigen, gleich gelagerten Revisionsverfahren eines auswählt, das ein möglichst breites Spektrum offener Rechtsfragen behandelt, deren Entscheidung für eine Vielzahl anderer Verfahren von Bedeutung ist. Dieses wird durch Beschluss des BGH zum „Leitentscheidungsverfahren“ bestimmt, wobei der Sachverhalt und die relevanten Rechtsfragen darzustellen sind. Einer Güteverhandlung bedarf es gemäß § 555 ZPO-E nicht. Nach diesem Beschluss können Instanzgerichte ähnlich gelagerte Verfahren bis zur BGH-Entscheidung aussetzen, allerdings nur mit Zustimmung der Parteien (§ 148 Abs. 4 ZPO-E). Der BGH kann das einmal beschlossene Leitentscheidungsverfahren unabhängig vom Willen der Parteien fortführen (§ 565 Abs. 1 ZPO-E). Mit anderen Worten kann der BGH in Form einer Leitentscheidung auch dann die relevanten Rechtsfragen entscheiden, wenn eine Revision zurückgenommen wird oder sich das Revisionsverfahren auf andere Weise erledigt. Diese Regelung stellt sicher, dass der BGH völlig unabhängig vom Schicksal der Revision seiner Aufgabe der Rechtsfortbildung und -vereinheitlichung nachkommen kann. Formal entfaltet eine Leitentscheidung weder für das Leitentscheidungsverfahren noch für andere gleichgelagerte Verfahren Bindungswirkung; sie soll lediglich als „Richtschnur“ für andere Verfahren dienen. Es ist aber zu erwarten, dass die Instanzgerichte die BGH-Leitentscheidung regelmäßig berücksichtigen werden. Dennoch steht es der unterlegenen Partei frei, gegen ein Urteil in Berufung zu gehen oder Revision einzulegen. Im Normalfall wird der BGH ein von der Leitentscheidung abweichendes Urteil aufheben. Denkbar ist aber auch, dass der BGH das abweichende Urteil aufrechterhält, weil die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls eine abweichende Entscheidung rechtfertigen.
Laute Kritik
Kritiker des Gesetzgebungsentwurfs bezweifeln, dass das Gesetz die Instanzgerichte in der erwarteten Weise entlasten wird. Ein Hauptkritikpunkt ist, dass das Leitentscheidungsverfahren maßgeblich davon abhängt, wie schnell Gerichtsverfahren den BGH erreichen. Dies kann bekanntlich Jahre dauern. Da es zudem gängige Praxis ist, höchstrichterliche Entscheidungen bereits in der Berufungsinstanz aus prozesstaktischen Gründen zu verhindern, könnte das Leitentscheidungsverfahren diesen Trend sogar noch verstärken. Die Folge wären also womöglich sogar mehr und nicht weniger Streitfälle und eine zersplitterte Rechtsprechung, weil Grundsatzfragen seltener zur Entscheidung zum BGH kommen. Darüber hinaus wird bemängelt, dass die Parteien immer noch die Möglichkeit haben, die höchstrichterliche Klärung von Grundsatzfragen bis zur Revisionserwiderung hinauszuzögern. Kritiker sind daher der Ansicht, dass eine effektivere Entlastung der Justiz erreicht werden könnte, wenn die Instanzgerichte oder die Parteien selbst die Möglichkeit hätten, entscheidungserhebliche Rechtsfragen – ähnlich einem Vorabentscheidungsverfahren zum Europäischen Gerichtshof – direkt dem BGH zur Entscheidung vorzulegen. Zwar lässt sich der Instanzenzug auch heute schon durch eine Sprungrevision (§ 566 ZPO) abkürzen, in der Praxis wird diese Möglichkeit allerdings nur selten zur Klärung von Grundsatzfragen genutzt. Denn eine Sprungrevision nimmt den Parteien faktisch die zweite (Tatsachen-)Instanz, ist prozessual mit besonderen Hürden verbunden und bedarf zudem der Zustimmung des Prozessgegners.
Darüber hinaus wird verschiedentlich angeregt, den Instanzgerichten mehr Möglichkeiten an die Hand zu geben, bei Massenklagen Verfahren auch ohne Zustimmung der Parteien bis zur Entscheidung von Grundsatzfragen auszusetzen. Dies würde eine effizientere Steuerung von Massenverfahren bereits ab der ersten Instanz ermöglichen und könnte schneller zu mehr Rechtssicherheit durch eine einheitliche Rechtsprechung führen. Ein weiterer, schwerwiegender Kritikpunkt am geplanten Leitentscheidungsverfahren ist die potenziell erodierende Einzelfallgerechtigkeit. Kritiker argumentieren, dass Leitentscheidungen des BGH zwar Orientierung für die Instanzgerichte bieten, gleichzeitig bergen sie aber auch das Risiko, dass Instanzgerichte diese Entscheidungen – gerade bei Überlastung durch Massenklagen – zu stark generalisieren und dadurch potenziell die spezifischen Umstände des Einzelfalls übersehen.
Erhebliche Auswirkungen auf die Praxis erwartet
Bei aller Kritik am Gesetzentwurf zum Leitentscheidungsverfahren wird erneut das gesetzgeberische Bestreben deutlich, dem jungen Phänomen von Massenklagen effektive Mittel zur Entlastung der Justiz entgegenzusetzen. Das Leitentscheidungsverfahren ist dabei nur ein weiterer Baustein neben anderen Initiativen wie dem Kapitalanleger-Musterverfahren, der Musterfeststellungsklage und der Abhilfeklage (Warum Verbraucher ab 2023 gemeinsam klagen; Kollektiver Rechtsschutz für Verbraucher). Im Kontext des Leitentscheidungsverfahrens erwarten wir, dass Prozessparteien ihre Taktiken signifikant ändern werden. Die Fähigkeit des BGH, auch nach Rücknahme einer Revision oder nach einem Vergleich eine Leitentscheidung zu fällen, begrenzt die Möglichkeiten der Parteien, eine unerwünschte höchstrichterliche Entscheidung „in letzter Minute durch einen Geldkoffer“ zu verhindern. Speziell in Verbraucherklageverfahren werden sich Unternehmen auf die geänderten Spielregeln durch ein angepasstes Risikomanagement einstellen müssen. Insgesamt dürfte das Leitentscheidungsverfahren im Rechtsstreit damit zu einer stärkeren Konzentration auf die Klärung rechtlicher Grundsatzfragen führen. Ob dies in Summe auch zu einer Entlastung der Justiz führt, muss sich allerdings angesichts einer in Deutschland aufkommenden Klageindustrie erst noch zeigen.
Kontaktpersonen: Alexander Schmiegel, LL.M., Henry L. Krafczyk