Die Urteile
In steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren spielt die Beschlagnahme von Geschäftsunterlagen häufig eine wesentliche Rolle. Im Spannungsfeld zwischen einer effektiven Strafverfolgung und dem Schutz berechtigter Interessen des Beschuldigten stellt sich die Frage, inwieweit die Herausgabe der Originalunterlagen oder die Möglichkeit zur Anfertigung bzw. zum Erhalt von Kopien sichergestellt werden kann. Im zugrunde liegenden Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO wurden originäre Geschäftsunterlagen beschlagnahmt. Der Beschuldigte begehrte teilweise deren Herausgabe oder hilfsweise die Anfertigung und Aushändigung von Kopien. Das Amtsgericht Nürnberg hat den Antrag des zuständigen Finanzamtes Nürnberg-Süd auf Beschlagnahme u. a. der 64 Leitz-Ordner als unverhältnismäßig abgelehnt und deren Herausgabe angeordnet. Auf die gegen diesen Beschluss eingelegte Beschwerde der Bußgeld- und Strafsachenstelle des Finanzamtes hat das Landgericht Nürnberg-Fürth den Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg aufgehoben und die Beschlagnahme angeordnet. Im Einzelnen:
Sicherstellung von Originalunterlagen
Der Beschuldigte ist alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer einer GmbH und fungiert ferner als Kommanditist einer GmbH & Co. KG, deren Komplementärin die GmbH ist. Die Bußgeld- und Strafsachenstelle beim Finanzamt Nürnberg-Süd führte gegen den Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Hinterziehung betrieblicher Steuern.
Das Drama begann mit Durchsuchungen an verschiedenen Orten am 18.07.2023, sowohl beim Beschuldigten als auch bei Dritten. Dabei wurden sowohl elektronische Datenträger als auch die besagten 64 Leitz-Ordner aufgefunden und zur Durchsicht in der Behörde sichergestellt. Bereits am 24.08.2023 teilte die Steuerfahndung mit, dass die im Rahmen der Durchsuchung sichergestellten IT-Geräte forensisch ausgewertet seien und der Beschuldigte einen Termin zur Rückgabe vereinbaren könne. In allgemeiner Hinsicht ist dazu anzumerken, dass für den Beschuldigten die Rückgabe elektronischer Daten oder sichergestellter Computer häufig viel wichtiger ist als die von Papierunterlagen. Wer von einer Durchsuchung betroffen ist, sollte daher immer versuchen, noch während der Maßnahme Kopien von elektronischen Daten zu erstellen und – soweit möglich – die Sicherstellung oder Beschlagnahme von Computern gänzlich zu vermeiden. Dies gilt insbesondere für betrieblich notwendige elektronische Systeme wie z. B. Server oder elektronische Kassensysteme.
Der Verteidiger tritt auf den Plan
Im September 2023 kam dann richtig Schwung in die Angelegenheit. Der mandatierte Verteidiger erhielt Akteneinsicht, vermutlich durch Übersendung einer Kopie der Ermittlungsakte, monierte jedoch deren Unvollständigkeit. Schließlich seien eine Vielzahl von Beweisstücken sichergestellt worden, darunter insbesondere die besagten 64 Leitz-Ordner. Letztere seien ihm nicht zur Verfügung gestellt worden, weswegen eine sachgerechte Verteidigung nicht möglich sei. Die Steuerfahndung, wo sich die begehrten Unterlagen befanden, teilte dem Verteidiger mit, dass eine Einsichtnahme in die Unterlagen nur an Amtsstelle möglich sei. Es bestehe auch kein Anspruch auf die Aushändigung von Kopien. Kopien oder Scans der sichergestellten Unterlagen könnten durch den Verteidiger bzw. dessen Büropersonal an Amtsstelle gefertigt werden.
Noch vor Weihnachten vermerkte die Steuerfahndung am 18.12.2023, dass die Durchsicht der sichergestellten Unterlagen abgeschlossen sei. Nach dem Jahreswechsel beantragte die Behörde am 18.01.2024 beim zuständigen Amtsgericht Nürnberg die Beschlagnahme von 82 näher bezeichneten Gegenständen als Beweismittel, wozu offensichtlich auch Teile der besagten 64 Leitz-Ordner zählten. Die Verteidigung folgte weiter ihrer Linie und betonte, dass sie Anspruch auf Einsicht in die gesamte Akte unter zumutbaren Rahmenbedingungen habe. Zudem benötige der Beschuldigte die Unterlagen bzw. erhebliche Teile davon dringend zum Betrieb seines Unternehmens. Die Steuerfahndung bot hingegen lediglich die Digitalisierung und Zurverfügungstellung jener 82 Unterlagen an, deren Beschlagnahme beim Amtsgericht beantragt wurde. Die Angelegenheit wanderte in das streitige Verfahren.
Zunächst Sieg auf ganzer Linie
Mit Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 14.02.2024 setzte sich die Verteidigung auf ganzer Linie durch. Das Gericht hat eine Beschlagnahme der Unterlagen im Original als unverhältnismäßig abgelehnt, da die Behörde dem Gericht nicht habe nachvollziehbar darlegen können, weshalb nicht lediglich die Beschlagnahme einer Kopie der entsprechenden Daten für die Sicherung des Verfahrens genüge. Zudem sei nicht ersichtlich, warum nicht wenigstens eine Digitalisierung der Unterlagen erfolgt sei, um der Verteidigung ihre Arbeit und dem Beschuldigten die Fortführung seines Unternehmens zu ermöglichen. Bemerkenswert ist die – wohl zutreffende – Feststellung des Gerichts, dass es „im Jahr 2024 von einer Dienststelle, die in Steuerstrafverfahren des vorliegenden Umfangs selbständig ermittelt, erwartet werden muss, dass sie zu einer Digitalisierung von Unterlagen dieses Umfangs in der Lage ist“. Danach mussten die sichergestellten Unterlagen – unter Einschluss der 64 Leitz-Ordner – an den Beschuldigten herausgegeben werden.
Landgericht gibt der Behörde recht
Da die Bußgeld- und Strafsachenstellte nach der Entscheidung des Amtsgerichts Nürnberg die Originale ihrer Beweismittel verlieren würde, legte die Behörde wenig überraschend Beschwerde zum Landgericht ein. Das angerufene Landgericht Nürnberg-Fürth ist in seinem Beschluss vom 01.08.2024 zu einer diametral entgegengesetzten Entscheidung gekommen, die bei der Verteidigung des Beschuldigten sicherlich für Katerstimmung gesorgt haben wird. Der beantragten Beschlagnahme ist stattgegeben und das Begehren der Verteidigung auf Zurverfügungstellung der sichergestellten Unterlagen bzw. vollständigen Kopien oder Scans derselben umfassend zurückgewiesen worden.
Das Landgericht hat die Gelegenheit genutzt, sich ausführlich mit den Rechten des Beschuldigten auf Zugang zu sichergestellten oder beschlagnahmten Akten zu beschäftigen. Von zentraler Bedeutung sei dabei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Danach müsse die Sicherstellung oder Beschlagnahme zur Erreichung ihres Zwecks, insbesondere der Beweissicherung, geeignet und erforderlich sein. Sie dürfe ferner unter Berücksichtigung der Beweisbedeutung des Gegenstands und des Gewichts des strafrechtlichen Vorwurfes nicht außer Verhältnis zu den mit ihr verbundenen Nachteilen für den Gewahrsamsinhaber stehen. Die gegenläufigen Interessen der Ermittlungsbehörde und des Beschuldigten müssten somit sorgsam gegeneinander abgewogen werden.
Behörde darf im Grundsatz stets die Originale beschlagnahmen
Nach Auffassung des Landgerichts bestehen ein Bedürfnis und die Erforderlichkeit einer Beschlagnahme von Originalen derartiger Unterlagen bereits dann, wenn gefertigte Kopien oder eine elektronische Erfassung durch Einscannen im weiteren Verfahren nicht in gleicher Weise zu Beweiszwecken verwendet werden können wie die Originale. Die Beschlagnahme von Kopien wäre hier ein nicht in gleicher Weise geeignetes Mittel. In allgemeiner Hinsicht hat das Landgericht auf das möglicherweise bestehende Erfordernis einer kriminaltechnischen Untersuchung von Dokumenten verwiesen, die jedoch im vorliegenden Fall keine Rolle spielt. Mehr Relevanz habe dagegen das Bedürfnis der Finanzverwaltung, sich ein vollständiges Bild über die Buchungsunterlagen und deren Ablage machen zu können, insbesondere mit Blick auf die Einhaltung der Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung und ggf. daraus resultierender Schätzungsbefugnisse. In praktischer Hinsicht ist angeführt worden, dass eingescannte Dokumente insoweit niemals ein identisches Bild des Originals liefern können, etwa bei handschriftlichen Bearbeitungsvermerken oder „geklammerten“ Papieren, Briefumschlägen oder unterschiedlichen Papierformaten. Dies bedeutet allerdings umgekehrt, was das Landgericht auch ausdrücklich zugestanden hat, dass sich die Ermittlungsbehörde auch mit Kopien oder Scans von Dokumenten zufriedengeben muss, wenn die vorgenannten Aspekte keine Rolle spielen. Unterscheidet sich der Aussagegehalt einer Kopie somit nicht von der des Originals und bestehen auch keine Zweifel an der Echtheit der Dokumente, besteht grundsätzlich keine Erforderlichkeit, unbedingt ein Original zu beschlagnahmen.
Herausgabeanspruch für dringend benötigte Unterlagen
Sofern der Beschuldigte vorgebracht hat, er benötige die sichergestellten Unterlagen für die Aufstellung oder Prüfung von Jahresabschlüssen oder die Erstellung von Steuererklärungen, ist die Rechtsprechung einem sehr strengen Maßstab gefolgt. Auch wenn dies im Ausgangspunkt als „nachvollziehbarer dringender Zweck“ betrachtet worden ist, soll die Fertigung und Herausgabe einer Kopie aller sichergestellten Unterlagen nicht zulässig sein. Dies soll dem Interesse der Allgemeinheit an einer leistungsfähigen Strafjustiz und der Pflicht des Staates, eine funktionstüchtige Rechtspflege zu gewährleisten, zuwiderlaufen. Die insoweit erforderliche gesonderte Vorhaltung von Personal und Betriebsmitteln für Kopierarbeiten würde die Befassung der Ermittlungsbehörden mit den Beweismitteln und mit der Aufklärung des Tatverdachts als solchem verzögern und behindern, ohne dass damit im Gegenzug für den Betroffenen angesichts kopierter und nicht dringend benötigter Unterlagen eine messbare Verbesserung einherginge. Dieser Maßstab verkennt jedoch, dass es sowohl für Jahresabschlüsse als auch für Steuererklärungen ganz wesentlich auf die Vollständigkeit der zugrunde liegenden Daten und Informationen ankommt. Führt man sich vor Augen, dass selbst kleine Fehler in Steuererklärungen oder in zugrunde liegenden Jahresabschlüssen im Worst Case als Steuerhinterziehung verfolgt werden können, erscheinen die vorstehenden Maßstäbe der Rechtsprechung wenig nachvollziehbar bzw. einseitig zugunsten der Ermittlungsbehörden überdehnt.
Können (vollständige) Kopien oder Scans von der Behörde verlangt werden?
Auch der zwischenzeitlich geäußerten Forderung der Verteidigung, dass – anstelle einer Herausgabe der Originalunterlagen – Kopien oder Scans seitens der Behörde kostenfrei zur Verfügung zu stellen sind, hat das Landgericht eine deutliche Absage erteilt. Angesichts der vorhandenen gesetzlichen Regelungen in der Strafprozessordnung und im Gerichtskostengesetz bestehe für die Ermittlungsbehörden kein Spielraum, aus Gründen der Verhältnismäßigkeit oder des Aufwandes für die Erfassung der jeweiligen Dokumente von einer Kostenerstattung pauschal abzusehen. Im Übrigen bestehe kein pauschaler Anspruch auf Vervielfältigung sämtlicher sichergestellter bzw. beschlagnahmter Papierbeweismittel durch die Ermittlungsbehörden, unabhängig davon, ob diese im weiteren Verfahren in irgendeiner Weise zu Beweiszwecken verwendet und Aktenbestandteil werden sollen. Sonderlich nachvollziehbar erscheint die Position des Landgerichts nicht, zumal bereits eine Vielzahl von Behörden mit elektronischen Akten arbeitet und der formale Kontakt mit Behörden und Gerichten vielfach nur noch auf elektronischem Weg erfolgen kann (und muss). Soweit das Landgericht auf fehlende personelle Ressourcen bei der Steuerfahndung für das Einscannen von Unterlagen verwiesen hat, erscheint dieser Aspekt nicht geeignet, daran eine Einschränkung der Rechte des Beschuldigten festzumachen. Bei allem Pragmatismus darf nicht übersehen werden, dass eine Durchsuchung und eine Sicherstellung von Unterlagen einen Grundrechtsreingriff darstellen.
Rechtsstreit oder Versuch einer Absprache?
Der überaus verbissene und für den Beschuldigten letztendlich erfolglose Streit über die im Original sichergestellten und später beschlagnahmten 64 Leitz-Ordner zeigt, wie wichtig das Management einer Durchsuchung in diesem Punkt ist. Die Praxis lehrt, dass mit späteren rechtlichen Streitverfahren mögliche Fehler während der Durchsuchung nicht bzw. allenfalls teilweise ausgebügelt werden können. Im vorliegenden Fall hätte es im Sinne einer Best Practice möglicherweise nahegelegen, bereits während der Durchsuchung den Umfang der sichergestellten physischen Akten zu begrenzen. Es ist daher sinnvoll, möglichst genau herauszuarbeiten, welcher Tatvorwurf erhoben wird und welche Art von Dokumentation notwendig ist, um diesen gerichtsfest beweisen zu können. Pauschale Erwägungen der Ermittlungsbehörden oder ein simples „Das machen wir jetzt mal so“ sind sicher nicht geeignet, dem Maßstab der Verhältnismäßigkeit zu genügen. Sind im Übrigen Buchhaltungsdaten mit einer entsprechenden Archivierung der Buchungsbelege in elektronischer Form vorhanden („keine Buchung ohne Beleg“), könnte eine Beschlagnahme von Papierakten – je nach Sachverhalt – ohnehin gänzlich unverhältnismäßig sein bzw. lässt sie sich möglicherweise umfänglich begrenzen. Auch ist es denkbar, mit den Ermittlungsbehörden Absprachen dergestalt zu treffen, dass Papierunterlagen nach einer Sichtung durch die Behörde – ohne das Erfordernis einer Beschlagnahme – herausgegeben werden, wenn sich die Behörde von der Vollständigkeit einer elektronisch verfügbaren Ablage überzeugen konnte. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass solche Absprachen auch noch nach Abschluss der Durchsuchungsmaßnahme möglich und häufig sinnvoll sind. Im vorliegenden Fall benötigte die Steuerfahndungsstelle genau fünf Monate, um die zunächst sichergestellten Unterlagen durchzusehen. In der Praxis sehen wir häufig sogar noch deutlich längere Zeiträume, die als Zeitfenster für sinnvolle Absprachen genutzt werden können.