Menschen warten auf ihr Jobinterview

AGG-Hopping als „Sekretärin“


Ein angehender Wirtschaftsjurist nutzte potenziell geschlechtsdiskriminierende Stellenausschreibungen zu seinen Gunsten und bewarb sich bundesweit auf Stellenausschreibungen als „Sekretärin“ – offenbar allein mit dem Ziel, Entschädigungsansprüche nach dem AGG geltend zu machen, so die ganz überwiegende Mehrheit der damit befassten Arbeitsgerichte.

Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz – Einfallstor für AGG-Hopping?

Ziel des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes ist der Schutz von Beschäftigten und Menschen, die sich auf eine Arbeitsstelle bewerben, vor unzulässiger Diskriminierung – beispielsweise aufgrund des Geschlechts oder des Alters. Bereits bei Einführung des Gesetzes im Jahr 2006 kamen Bedenken wegen etwaiger Missbrauchsmöglichkeiten auf. Denn gemäß § 15 Abs. 2 AGG können Betroffene finanzielle Entschädigung bei einer Diskriminierung geltend machen. Zwar blieb die befürchtete „Klagewelle“ aus, einige Personen machten jedoch als sog. AGG-Hopper bundesweit Schlagzeilen.

Aktuelle AGG-Hopping-Fälle

Derzeit beschäftigt ein angehender Wirtschaftsjurist die Justiz, der allein in 15 Monaten elf Klagen in Berlin und weitere in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen anstrengte – alle aufgrund einer behaupteten Diskriminierung wegen seines Geschlechts. Der Kläger bewarb sich in sämtlichen Fällen gezielt auf Stellenausschreibungen als „Sekretärin“, wobei die ausschreibenden Unternehmen teilweise mehrere Hundert Kilometer vom Wohnsitz des Klägers entfernt lagen. Im Rahmen seiner – eher rudimentären – Bewerbungen gab der Kläger lediglich an, über entsprechende Berufserfahrung in dem ausgeschriebenen Bereich sowie über eine abgeschlossene Ausbildung als Industriekaufmann zu verfügen. Zeugnisse, Lebenslauf oder Ähnliches reichte er nicht ein. Seine Bewerbungsschreiben enthielten Rechtschreib- und Grammatikfehler, die ihn als Bürokraft sofort disqualifizierten. In früheren Bewerbungsschreiben fragte der Kläger zudem gezielt nach, ob ausschließlich eine Frau für die offene Position gesucht werde, und verwies in diesem Zusammenhang explizit auf sein Geschlecht als Mann. Nach Absage der jeweiligen Unternehmen machte er Entschädigungsansprüche wegen unzulässiger Geschlechtsdiskriminierung nach dem AGG geltend.

Der Großteil der mit den Klagen befassten (Landes-)Arbeitsgerichte lehnte Entschädigungsansprüche des Klägers ab. Der Tenor: Mit seinen Bewerbungen habe der Kläger lediglich den schützenswerten Status als Bewerber im Sinne des AGG erreichen wollen, um im Anschluss finanzielle Entschädigungsansprüche geltend machen zu können. Jenes Verhalten verstoße gegen Treu und Glauben. Auch das LAG Hamm, Urteil vom 05.12.2023, Az.: 6 Sa 896/23 und das LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 06.09.2023, Az.: 4 Sa 900/22 vertraten diese Rechtsauffassung. Der Kläger habe nie ernsthaft beabsichtigt, tatsächlich eine Zusage zu erhalten und die ausgeschriebenen Stellen anzutreten.

Verfahren vor dem LAG Berlin-Brandenburg: Vorwurf der Befangenheit

Der Kläger wollte die obige Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg (LAG) nicht akzeptieren und ging noch einen Schritt weiter. Mit Blick auf das Urteil des LAG stellte er Befangenheitsanträge gegen dessen sämtliche Vorsitzende Richterinnen und Richter. Sein Vorwurf: Diese hätten unzulässigerweise von Amts wegen Akten der jeweils weiteren beim LAG anhängigen Verfahren berücksichtigt und sich dahin gehend abgesprochen, alle seine Klagen abzuweisen. Die Arbeitsgerichtsbarkeit zähle aber zu den Zivilgerichtsbarkeiten – und hier herrsche der sog. Beibringungsgrundsatz: Nur was seitens der Parteien in den Prozess eingebracht werde, dürfe also von den Arbeitsgerichten entsprechend berücksichtigt werden. Vorliegend habe die Beklagte jedoch gerade nicht geltend gemacht, dass gleich mehrere AGG-Klagen des Klägers mit quasi identischem Sachverhalt beim LAG anhängig seien.

Im Zivilprozess kann das Gericht den Sachverhalt zwar nicht von Amts wegen ermitteln, doch wie steht es mit Verfahren, die am selben Gericht anhängig sind und von denen die Vorsitzenden Richterinnen und Richter auf sonstige Weise Kenntnis erlangt haben? Diese Tatsachen kann das Gericht berücksichtigen, wenn sie offenkundig i. S. d. § 291 Zivilprozessordnung (ZPO) sind. Dazu gehören auch allgemein bekannte und gerichtskundige Tatsachen, also solche, die dem jeweiligen Gericht bekannt sind. Nach Auffassung des Klägers ist eine irgendwie gewonnene Kenntnis von anderen Verfahren jedoch nicht als offenkundige Tatsache zu werten. Für ihn liegt in der Berücksichtigung dieser Tatsachen somit ein klarer Verstoß gegen den Beibringungsgrundsatz.

Da sich die Ablehnungsgesuche des Klägers gegen alle Vorsitzenden Richterinnen und Richter des LAG richteten, erachtete sich das LAG insgesamt als beschlussunfähig und überließ die Entscheidung über die Ablehnungsgesuche dem Bundesarbeitsgericht (BAG). Vom obersten Arbeitsgericht inhaltlich entschieden ist diese Konstellation bisher allerdings nicht. Es hat lediglich einige Ablehnungsgesuche des Klägers mit seinem Beschluss vom 25.01.2024, Az.: 8 AS 17/23, zurückgewiesen und sieht das LAG Berlin-Brandenburg nicht als umfassend befangen und damit als handlungsunfähig an. Jedenfalls mit Blick auf diejenigen Vorsitzenden Richterinnen und Richter, die bislang nicht mit Klagen des Klägers befasst waren, sei eine Befangenheit nicht gegeben, so das BAG. Insofern seien diese Vorsitzenden auch in der Lage, über die Ablehnungsgesuche bezüglich der anderen Vorsitzenden Richterinnen und Richter zu entscheiden.

Insofern müssen sich die Vorsitzenden Richterinnen und Richter des LAG Berlin-Brandenburg nun insbesondere mit der Frage beschäftigen, ob – neben bereits rechtskräftigen und veröffentlichten Gerichtsentscheidungen – auch noch anhängige Verfahren als offenkundige Tatsachen i. S. d. § 291 ZPO gelten und damit auch ohne entsprechende Einbringung der jeweiligen Streitpartei seitens des Gerichts berücksichtigt werden dürfen. Das Gericht wird über die noch offenen Befangenheitsanträge entscheiden und die Verfahren abschließen. Es bleibt abzuwarten, wie sich das LAG zu der Frage positionieren wird. In diesem Zusammenhang könnte die Zurückweisung der Befangenheitsanträge des Klägers durch das BAG als Indiz gewertet werden, dass das BAG die Verwertung der Kenntnis von anderen anhängigen Verfahren am eigenen Gericht für zulässig hält.

Weiteres Verfahren vor dem BAG

Inhaltlich entscheiden wird das BAG demnächst in dem nahezu identischen Parallelverfahren des Klägers vor dem LAG Hamm, gegen dessen Urteil (LAG Hamm, Urteil vom 05.12.2023, Az.: 6 Sa 896/23) er Revision eingelegt hat. Dieser Fall wird aber vermutlich (noch) keine klare Antwort auf die Frage bringen, ob ein Zivilgericht Kenntnisse über sonstige Verfahren eigenständig beiziehen darf. Denn in diesem Verfahren hatte das beklagte Unternehmen selbst die weiteren Verfahren des Klägers ermittelt und die Erkenntnisse in den Prozess eingebracht.

Praxishinweis

Offene Stellen sollten sehr sorgfältig und diskriminierungsfrei ausgeschrieben werden: Formulierungen wie „Sekretärin“ oder „junge Nachwuchstalente“ bergen Potenzial für etwaige Diskriminierungsvorwürfe. Zudem sollten das Bewerbungsverfahren sowie eingehende Bewerbungen sauber dokumentiert werden. Wenn sich Unternehmen konkreten Diskriminierungsvorwürfen im Zusammenhang mit Bewerbungen ausgesetzt sehen, kann es sinnvoll sein, Nachforschungen bezüglich der „Bewerbungshistorie“ der Bewerberinnen und Bewerber anzustellen. Etwaige Indizien für AGG-Hopping sollten jedenfalls gerichtlich vorgetragen werden, um den Vorwurf der unzulässigen Diskriminierung im Sinne des AGG zu entkräften.

Kontaktpersonen: Bärbel KuhlmannArne Dannemann