Die Europäische Kommission hat am 26.06.2023 im Amtsblatt EU 2023, C 222, 1 zur VO (EG) 1370/2007 (nachfolgend VO 1370/2007) nach fast zehn Jahren die bisherigen Auslegungsleitlinien ersetzt. Diese Leitlinien sind zwar kein bindendes Recht, spiegeln aber die Auffassung der Europäischen Kommission wider und sind somit sowohl für die Gebietskörperschaften (Städte, Landkreise und Gemeinden) als auch für sämtliche Verkehrsunternehmen äußerst praxisrelevant.
Wesentlicher Inhalt der Auslegungsleitlinien
Die Auslegungsleitlinien regeln in Übereinstimmung mit der bisherigen Praxis und daher weitgehend redaktionell folgende Punkte:
- Anwendungsbereich der VO 1370/2007 in Abgrenzung zum allgemeinen Vergaberecht
- Definition allgemeiner Vorschriften und gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen
- Rahmenbedingungen für die Vergabe von Subunternehmeraufträgen
- Regelungen zum Schutz der Arbeitnehmer beim Betreiberwechsel
- Zugang zum Eisenbahn-Rollmaterial
- Voraussetzungen einer zulässigen Änderung eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags (nachfolgend auch: öDA)
- Regelungen zur wettbewerblichen Vergabe sowie Ausnahmen
- Voraussetzungen einer Notvergabe (und einer Anschlussnotvergabe)
- Direktvergabevoraussetzungen im Eisenbahnverkehr
- Regelungen zu Ausgleichsleistungen beim öDA
- Definition des angemessenen Gewinns und Überkompensationskontrolle
- Klarstellungen zur KMU-Vergabe
- Regelungen zu On-demand-Verkehren
- Regelungen zu Veröffentlichungs- und Transparenzpflichten
Zwei der Regelungen sind für die Praxis von besonderem Interesse: Die eine betrifft die Abwicklung wettbewerblicher Vergaben, die andere den Umfang der zukünftigen Verkehrsleistungserbringung auch bei Direktvergaben.
Regelung betreffend die wettbewerbliche Vergabe
Die Ausführungen der Kommission unter Abschnitt 2.6.1 könnten so verstanden werden, dass die Europäische Kommission eine Überkompensationsprüfung und ggf. Rückforderung nicht nur bei Direktvergaben, sondern auch bei allen wettbewerblichen Vergaben fordert. Diese Notwendigkeit besteht nach unserer Auffassung nicht.
Die Europäische Kommission stellt zunächst – zu Recht – fest, dass nicht bei jeder Vergabe im Wettbewerb der resultierende Preis zweifelsfrei die geringstmöglichen Kosten für die Allgemeinheit mit sich bringt. Vorstellbar ist beispielsweise, dass trotz einer im Grundsatz wettbewerblichen Vergabe nur ein Unternehmen ein Angebot abgibt. Diesbezüglich führt die Kommission aus, dass in der Regel zuständige Behörden nachträgliche Kontrollen durchführen müssen, um etwaige Überkompensationen aufzudecken. Ferner seien in den öffentlichen Dienstleistungsaufträgen Rückforderungsmechanismen vorzusehen, die die Einziehung etwaiger übermäßiger Ausgleichsleistungen ermöglichen. Dieser Grundsatz soll auch für wettbewerblich vergebene Aufträge gelten. Daher empfiehlt die Kommission, eine Überkompensationskontrolle anhand der Kosten und Einnahmen sowie der normalerweise im Vertrag festgelegten Obergrenze für den Gewinn durchzuführen. Es stünde aber den zuständigen Behörden frei, Häufigkeit und Umfang von Überkompensationskontrollen je nach Laufzeit und Komplexität des Auftrags zu bestimmen.
Zunächst würde eine entsprechende Kostenkontrolle bei sämtlichen wettbewerblichen Vergaben in der Praxis einen erheblichen Mehraufwand verursachen. Alle Verkehrsunternehmen hätten die Kosten und Erlöse aller Dienstleistungsaufträge separat abzubilden (Trennungsrechnung), alle Aufgabenträger müssten sämtliche Verkehrsunternehmen in regelmäßigen Abständen auf Überkompensationen prüfen, eine Gewinnobergrenze festlegen und die Abschöpfung eventuell gegebener größerer Gewinne regeln und durchsetzen.
Allerdings ist festzuhalten, dass eine derartige Handhabung den bisherigen Dokumenten der Kommission wie beispielsweise der Bekanntmachung zum Beihilfenbegriff sowie ständiger Entscheidungspraxis des EuGH widerspricht. Danach können wirtschaftliche Transaktionen von öffentlichen Stellen der Gegenseite keinen Vorteil verschaffen und keine Beihilfe darstellen, wenn sie zu normalen Marktbedingungen, also marktkonform, vorgenommen werden. Eine Marktkonformität kann direkt festgestellt werden, wenn eine Beschaffung in einem wettbewerblichen, transparenten, diskriminierungsfreien und bedingungsfreien Ausschreibungsverfahren durchgeführt wurde. Liegt daher ein entsprechendes Vergabeverfahren vor, kann keine Beihilfe (und damit auch keine Überkompensation) vorliegen.
Für die Auftraggeber folgt, dass sie sich zwar über eine mögliche Beihilfenrelevanz auch bei Durchführung eines wettbewerblichen Verfahrens im Klaren sein sollten; liegt aber ein „echter“ Wettbewerb mit mehreren beteiligten Unternehmen vor, kann nach bisheriger Handhabung des EuGH und der Kommission keine Beihilfe vorliegen. Ein weiterer Grund für eine fehlende Beihilfe kann die vergaberechtlich sowieso vor der Vergabe durchzuführende Kostenschätzung sein. Ergibt auch diese keine Anhaltspunkte dafür, dass der Preis zu hoch angesetzt ist, halten wir im Sinne der Vermeidung eines überbordenden Verwaltungsaufwands auf Auftraggeber- und Auftragnehmerseite eine Überkompensationskontrolle für verzichtbar.
Wesentliche Neuerungen bei der Festlegung des Bestellumfangs
Im Hinblick auf die Auferlegung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen, also die Festlegung zukünftig zu bestellender Verkehrsleistungen, hat die Kommission dargestellt, welche Prüfungsschritte die öffentliche Hand durchzuführen hat.
Nach Abschnitt 2.2.3 soll vor einer Vergabe gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen der tatsächliche Bedarf für die Festlegung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung ermittelt werden:
- Besteht eine Nachfrage seitens der Nutzer?
- Kann die Nachfrage (ggf. teilweise) ohne weitere Festlegung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen, sprich weiterer Bestellungen durch die öffentliche Hand, befriedigt werden?
- Wird der Ansatz gewählt, der die Grundfreiheiten am wenigsten einschränkt?
Auf diese Punkte gehen wir im Folgenden ein.
Nachfragebewertung
Während im ersten Entwurf der Überarbeitung der Auslegungsleitlinien aus dem Jahr 2021 noch der Aufgabenträger zu prüfen hatte, ob aufgrund der vorhandenen Nachfragesituation die beabsichtigte Vergabe notwendig ist, wird in dem verabschiedeten Entwurf auf eine potenzielle künftige Nachfrage unter Berücksichtigung politischer Ziele abgestellt. Letztlich bewertet der Aufgabenträger in der Bedarfsfestlegung für einen zukünftigen öffentlichen Dienstleistungsauftrag regelmäßig auch heute die Angemessenheit der Leistungsbeschreibung im Hinblick auf die zu erwartende oder angestrebte Nachfrage. Eine darüber hinausgehende aufwendige Untersuchung ist nicht erforderlich.
Befriedigung ohne (weitere) gemeinwirtschaftliche Verpflichtung
Die (teilweise) Befriedigung ohne gemeinwirtschaftliche Verpflichtung ist in Deutschland bereits durch die gesetzlichen Regelungen umgesetzt. Werden die rechtlichen Vorgaben eingehalten, ist dies ausreichend. Zunächst gilt der Vorrang der Eigenwirtschaftlichkeit. Kann der Verkehr ohne gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen erbracht werden, so hat ein entsprechender (Liniengenehmigungs-)Antrag eines Verkehrsunternehmens Vorrang vor der Festlegung neuer gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen.
Gekoppelt wird dies mit dem Grundsatz der losweisen Vergabe. Hierdurch hat der Aufgabenträger grundsätzlich zu prüfen, ob die Verkehrsleistung nicht in Teilleistungen vergeben werden kann. Ist dies der Fall, hat eine Unterteilung in Lose zu erfolgen. Für diese Teilleistungen gilt wieder der Vorrang der Eigenwirtschaftlichkeit – also der Vorrang der Befriedigung der Verkehrsnachfrage ohne Festlegung einer weiteren gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung.
Weiterer Prüfungen bedarf es unserer Auffassung nach nicht.
Geringstmögliche Beeinträchtigung der Grundfreiheiten
Nach der Formulierung der Kommission kann die zuständige Behörde statt der Vergabe eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags auch alternative Maßnahmen in Betracht ziehen. Diese Maßnahmen können, beispielsweise bei allgemeinen Regeln für Höchsttarife, auch allgemeine Vorschriften sein, statt einen öffentlichen Dienstleistungsauftrag an einen einzigen Betreiber zu vergeben.
In Deutschland hat sich, auch nach Befassung des EuG und des EuGH, die Rechtsprechung durchgesetzt, dass die Behörden ein Wahlrecht zwischen allgemeinen Vorschriften und öffentlichen Dienstleistungsaufträgen haben. Natürlich müssen sich die Behörden der Wahlmöglichkeit bewusst sein und entsprechend entscheiden – ein Vorrang für allgemeine Vorschriften ergibt sich nach unserer Auffassung aus der Passage der Auslegungsleitlinien nicht.