Satzungsdurchbrechende Beschlüsse im Gesellschaftsrecht
Als Satzungsdurchbrechung wird ein Gesellschafterbeschluss bezeichnet, der eine Regelung für einen konkreten Sachverhalt trifft, die nicht im Einklang mit der Satzung bzw. dem Gesellschaftsvertrag der Gesellschaft steht, ohne dass gleichzeitig die Satzung der Gesellschaft in dem gesetzlich vorgegebenen Verfahren (Beschluss der Gesellschafterversammlung mit Dreiviertelmehrheit sowie notarielle Beurkundung) geändert wird.
Die Einzelheiten der Behandlung der Satzungsdurchbrechung bei Kapitalgesellschaften sind in der juristischen Literatur und Rechtsprechung umstritten. Im Einklang mit der bisher herrschenden Rechtsprechung zu Kapitalgesellschaften hat der Bundesgerichtshof (BGH, Urteil vom 11.07.2023, II ZR 98/21) für die Aktiengesellschaft entschieden, dass eine punktuell regelnde Satzungsdurchbrechung möglich, aber anfechtbar ist. Satzungsdurchbrechungen mit Dauerwirkung seien hingegen nichtig, wenn die für eine Satzungsänderung geltenden Formvorschriften nicht eingehalten seien. Einer näheren Auseinandersetzung in der Entscheidung mit den zum Teil abweichenden Literaturauffassungen bedurfte es angesichts der bereits zulässig erhobenen Anfechtungsklage nicht.
Verfahren vor dem BFH: Frage der steuerlichen Anerkennung einer Vorabgewinnausschüttung
Der BFH hat sich in seinem Urteil vom 28.09.2022, VIII R 20/20 u. a. mit der Frage der steuerrechtlichen Anerkennung eines satzungsdurchbrechenden Beschlusses einer GmbH-Gesellschafterversammlung befasst. Im entschiedenen Fall ging es um Vorabausschüttungen nur an eine Gesellschafterin (inkongruente Gewinnverteilung). Zur Gewinnverteilung enthielt der betroffene Gesellschaftsvertrag keine Regelungen und damit insbesondere keine Öffnungsklausel im Sinne von § 29 Abs. 3 Satz 2 GmbHG, die im Einzelfall eine von den Beteiligungsverhältnissen abweichende Verteilung durch gesonderte Beschlussfassung zuließ.
Nach einer Außenprüfung vertrat das Finanzamt die Auffassung, die Ausschüttungen seien zu 50 Prozent auch dem anderen Gesellschafter zuzurechnen, denn entweder seien die Ausschüttungsbeschlüsse mangels Satzungsgrundlage zivilrechtlich nichtig und in der Folge eine verdeckte Gewinnausschüttung (vGA) nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG oder sie seien zwar zivilrechtlich wirksam, aber es liege ein Gestaltungsmissbrauch nach § 42 AO vor.
Position des BFH zur zivilrechtlichen Wirksamkeit im Verhältnis zur steuerlichen Anerkennung
Ob und inwieweit der BFH die o. g. im Gesellschaftsrecht entwickelten Grundsätze anwenden würde, war bislang offen. In seiner Entscheidung befasste sich der BFH nun sehr ausführlich mit der Frage der zivilrechtlichen Wirksamkeit inkongruenter Vorabgewinnausschüttungsbeschlüsse und traf folgende Kernaussagen:
(1) Wenn die Gesellschafterversammlung durch Beschluss einmalig von der subsidiären gesetzlichen Regelung in § 29 Abs. 3 Satz 1 GmbHG abweiche, liege ein punktuell satzungsdurchbrechender Ausschüttungsbeschluss vor. Solche Beschlüsse seien unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BGH nicht als nichtig anzusehen, sondern bei der GmbH entsprechend § 243 Abs. 1 AktG anfechtbar (BGH in BGHZ 123, 15, DStR 1993, 1302).
(2) Die Frage, ob ein satzungsdurchbrechender Beschluss eine von der Satzung abweichende Regelungslage mit Dauerwirkung begründe oder sich als punktueller Satzungsverstoß in einer einzelnen Maßnahme darstelle, betreffe eine im Einzelfall durch das Finanzgericht (FG) auf der Grundlage der in der zivilgerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Kriterien zu entscheidende Tatsachenfrage.
Im vorliegenden Fall sei die Würdigung des FG Münster, dass die von den Gesellschaftern der GmbH gefassten inkongruenten Vorabgewinnausschüttungsbeschlüsse jeweils nur punktuell satzungsdurchbrechend seien, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Das FG Münster hatte bei seiner Würdigung maßgeblich darauf abgestellt, dass jeder Beschlussfassung über eine Vorabausschüttung ein neuer Willensentschluss der Gesellschafter der GmbH zugrunde lag und diese keine neue Satzungsregelung zu einer generell von den Beteiligungsverhältnissen abweichenden Gewinnverteilung treffen wollten. Die Wirkung des jeweiligen Beschlusses habe sich im Abfluss der Ausschüttung an den einen Gesellschafter erschöpft.
Die unterschiedliche Behandlung von nur punktuell satzungsdurchbrechenden Beschlüssen und solchen mit Dauerwirkung ist nach Ansicht des BFH dadurch gerechtfertigt, dass Letztere auch den Rechtsverkehr berührten, während Erstere letztlich nur gesellschaftsintern wirkten. Bei satzungsdurchbrechenden Beschlüssen mit Dauerwirkung sei die zum Handelsregister eingereichte und dort für Dritte einsehbare Satzung unzutreffend. Damit sei der Gläubigerschutz berührt. Bei nur punktuell satzungsdurchbrechenden Beschlüssen bestehe diese Gefahr nicht. Daher sei die Nichtigkeitsfolge hier nicht angebracht, vielmehr seien die Beschlüsse wirksam, aber anfechtbar.
Offen ließ der BFH die gesellschaftsrechtlich umstrittene Frage, ob es für die zivilrechtliche Wirksamkeit des satzungsdurchbrechenden Beschlusses einer notariellen Beurkundung bedurfte oder ob diese genauso wie die Eintragung ins Handelsregister entbehrlich war. Im entschiedenen Fall hätten, so der BFH, alle Gesellschafter der GmbH der inkongruenten Gewinnverteilung zugestimmt, eine Anfechtung sei daher nicht zulässig. Damit sei der Beschluss unabhängig von der formalen Beurkundungsfrage wirksam und ein etwaiger Formmangel geheilt.
Auch die weiteren Argumente des Finanzamtes überzeugten den BFH nicht: Eine allgemeine steuerliche Angemessenheitskontrolle zivilrechtlich wirksam beschlossener inkongruenter Gewinnausschüttungen sei abzulehnen. Auch der Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten i. S. v. § 42 AO liege nicht vor. Inkongruente Gewinnverteilungen seien steuerlich anzuerkennen, wenn sie auf zivilrechtlich wirksam zustande gekommenen Beschlüssen beruhten.